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Die EU, das sind nicht nur Glühbirnen und Gurken – sie erleichtert unser Leben

Neue Serie zum Thema EU: Nachtzug nach Europa

Ist die EU das bürokratische Monster, als das Brexit-Befürworter und Euroskeptiker sie sehen? In einer neuen Serie wollen wir eintauchen in die Europäischen Union – in ihre Verordnungen, die nützlichen wie die irrwitzigen und werden uns der Frage stellen: Welche Rolle spielt die EU für unser tägliches Leben?

Wiebke Kanz

Autor

Wiebke  Kanz Reporterin zur Autorenseite
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Großbritannien will den Brexit: Bei einem Referendum Ende Juni stimmten 51,9 Prozent aller Wähler im Vereinigten Königreich mehr als 40 Jahre nach dem Ein- nun für einen Austritt aus der Europäischen Union. Die Europäische Union greife zu weitreichend in nationale Bereiche wie Landwirtschaft, innere Sicherheit oder Justiz ein, mache es durch ihre Freizügigkeitsgesetze vor allem Einwanderern aus Süd- und Osteuropa zu leicht, Arbeitsmärkte zu „stürmen“, und – so das Hauptargument von Euroskeptikern und Brexit-Befürwortern – befände sich im Regulierungswahn. In diesem Zusammenhang immer wieder gern genannt: Die Verordnung Nr. 1677/88/EWG, berühmt geworden als sogenannte Gurkenverordnung, die auf fünf Seiten die Güte- und Handelsklassen des grünen Gemüses anhand von Mindestgewicht, Färbung, Krümmung und Beschaffenheit definierte. Die EU zwänge, so das Argument, der Industrie unsinnige Standards auf – einfach nur, weil sie es könne. „Eurokratie“ lautet das Stichwort.

Beispiele wie die Schönheitsnorm für Gurken – 2009 wurde diese Regelung übrigens wieder aufgehoben – gibt es viele. Ja, es ist die EU, die europaweit Länge (17 Zentimeter), Breite (56 Millimeter) und Fassungsvermögen (fünf Liter) jedes einzelnen verkauften Kondoms vorschreibt. Die reguliert, dass eine Pizza mit der Bezeichnung „Napoletana“ maximal vier Zentimeter dünn und einen Durchmesser von höchstens 35 Zentimeter haben darf (im entsprechenden EU-Amtsblatt wird übrigens auch empfohlen, die Pizza sofort nach der Entnahme aus dem Ofen zu essen). Die uns vorschreiben will, welche Handschuhe wir zu Hause beim Geschirrspülen tragen – diese dürfen laut einer EU-Verordnung über „Persönliche Schutzausrüstungen“, kurz PSA, „nicht die Gesundheit und Sicherheit von Personen, Haustieren oder Eigentum gefährden“ und außerdem atmungsaktiv sein – oder wie viel Strom unser Staubsauger verbrauchen soll – ab 2017 sind es nur noch 900 Watt. Außerdem ist es Müttern EU-weit seit dem 1. Januar 2010 untersagt, mit Kinderwagen eine Rolltreppe zu benutzen, ist die elektrische Leitfähigkeit von Honig in einer weiteren EU-Norm festgelegt, finden sich in Supermarkt-Regalen der Mitgliedsstaaten nur Bananen, die mindestens 14 Zentimeter lang und 27 Millimeter breit sind, Brot darf nur dann als „gesund“ bezeichnet werden, wenn es einen Salzgehalt von 1,2 Prozent nicht übersteigt, auf einem Stück Butter dürfen sich „im diffusen Tageslicht und bei flach einfallendem UV-Licht“ keine Rückstände der Verpackung erkennen lassen … Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Doch: Die Europäische Union, das sind nicht nur verbotene Glühbirnen und gerade Gurken. In vielen Bereichen erleichtern Errungenschaften der EU unseren Alltag, ohne, dass wir es wissen. Deutlich wird das erst, wenn wir zurückblicken in eine Zeit, in der es diese Errungenschaften noch nicht gab.

Vor 35 Jahren noch undenkbar: Ein deutscher ICE (li.) steht neben einem französischen Schnellzug am Pariser Bahnhof Gare de l‘Est. Foto: dpa

32 unterschiedliche Schienensysteme gab es nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa – kaum eines davon kompatibel mit dem anderen.

28 Mitgliedstaaten hat die Europäische Union, in denen mehr als eine halbe Milliarde Einwohner lebt, die wiederum 24 Amtssprachen sprechen.

400 Dolmetscher sind im Europäischen Parlament dauerhaft im Einsatz, um zwischen 552 möglichen Sprachkombinationen zu vermitteln.

5 Cent mehr als im Inland darf ein Anruf mit dem Handy aus dem Urlaub pro Minute maximal kosten – so will es eine neue EU-Richtlinie.

Zum Beispiel ins Jahr 1981. In diesem Jahr organisierte Rainer Dannenberg zum ersten Mal einen Schüleraustausch des Albert-Einstein-Gymnasiums mit der französischen Partnerschule Fénelon in Paris. Was für heutige Ohren – und nicht nur für die junger Menschen – wie eine Selbstverständlichkeit klingt, war zu Beginn der 1980er Jahre noch ein Tagewerk, denn mit dem grenzüberschreitenden Bahnverkehr innerhalb Europas war das damals noch so eine Sache. „Allein die handgeschriebene Gruppenfahrkarte von Hameln nach Paris in den Händen zu halten, war damals schon ein kleiner Triumph“, erinnert sich der Französischlehrer. Und damit nicht genug: An den meisten Ländergrenzen war die Reise erst einmal vorbei. Alle Passagiere mussten aussteigen, die Grenze überqueren – Passkontrolle inklusive – und warten, bis jenseits der Grenze ein anderer Zug bereitgestellt wurde. Apropos Passkontrolle: Dass die Reisepässe aller EU-Bürger heute nahezu gleich aussehen – 88 mal 125 Millimeter groß, Bordeauxrot-Violett – und somit als solche zu erkennen sind, regelte der EU-Vorgänger, die Europäische Gemeinschaft (EG), ebenfalls 1981.

Warum der Aufwand bei internationalen Zugfahrten? Nun, innerhalb Europas gab es damals 32 unterschiedliche, historisch gewachsene Stromabnahme- und Gleissysteme. Unterschiedliche Spurweiten, Lichtsignale, Strom- und Zugsicherungssysteme machten es nicht nur nötig, dass Passagiere an der Grenze umsteigen mussten – auch Güter mussten damals an jedem Grenzbahnhof umgeladen werden. Lange Jahre änderten die nationalen Regierungen nichts an den bestehenden Hürden – schließlich bedeuteten unterschiedliche Schienenweiten auch, dass ein Gegner im Kriegsfall seine Truppen nicht auf dem Schienenweg versorgen konnte. Und damit zurück zur Europäischen Union: Als sich in den 1950er Jahren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande nämlich zur Montanunion, Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und zur Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) zusammenschlossen, stand genau diese Idee im Vordergrund: Kriege verhindern, Frieden schaffen, Frieden sichern. Vor allem durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und gemeinsame Kontrolle über Rohstoffe, die bei der Herstellung von Waffen zum Einsatz kommen.

War der Frieden also einmal hergestellt und gesichert, konnte der transeuropäische Schienenverkehr nach und nach durchlässiger gestaltet werden. Was für eine Mammutaufgabe das war und noch immer ist, lässt sich allein anhand der Dimensionen der Europäischen Union von heute ablesen: 28 Mitgliedstaaten – noch –, mehr als eine halbe Milliarde Einwohner, 24 Amtssprachen. Rund 400 Dolmetscher sind dauerhaft im Einsatz, um zwischen 552 möglichen Sprachkombinationen zu vermitteln, mehr als 160 nationale Parteien mit ihren jeweiligen nationalen Interessen agieren im EU-Parlament, zusammengefasst in neun Fraktionen. 751 EU-Parlamentarier pendeln zwischen Brüssel, wo Ausschüsse und Fraktionen tagen, dem Europäischen Parlament mit Sitz in Straßburg und dem Generalsekretariat in Luxemburg hin und her. Die Zahlen lassen es bereits erahnen: Jeder diplomatische Kniff, jede Verhandlung, jede Veränderung ist aufgrund der großen Anzahl unterschiedlicher Akteure unendlich schwerfällig. Auch in Krisenzeiten ist das Tempo notwendiger Entscheidungen auf EU-Ebene daher sehr langsam.

Und damit zurück zur Bahnfahrt: Es dauerte zwar bis 2007 – doch letztendlich konnte der erste deutsche ICE zum Pariser Gare de l‘Est aufbrechen. Wenn man heute kurz hinter Forbach bei einer Geschwindigkeit von 350 Stundenkilometern aus dem Zugfenster schaut, ist eine Grenze nicht mal zu erahnen – kein Ruckeln, kein Aussteigen, kein Lokwechsel, keine Passkontrolle. Lediglich das Handy wählt sich in ein ausländisches Mobilfunknetz ein und teilt dies durch eine SMS mit: „Willkommen in Frankreich.“

Die EU, die Staatengemeinschaft, der riesige, schwerfällige Bürokratie-Apparat, hat das transeuropäische Bahnfahren ermöglicht, vereinfacht, es zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen. Der Bahnverkehr ist dabei nur ein Beispiel von vielen: Es ist zum Beispiel eine Errungenschaft der Europäischen Union, dass Mobilfunkanbieter für Anrufe, SMS und mobiles Surfen im Internet im Ausland nicht beliebig viel berechnen dürfen. Seit dem 30. April diesen Jahres müssen Mobilfunkanbieter einen EU-regulierten Tarif anbieten – horrende Handy-Rechnungen nach dem Urlaub gehören damit der Vergangenheit an. Ebenfalls zeichnet die EU dafür verantwortlich, dass wir bei einem Notfall im Urlaub genau wissen, was zu tun ist: die 112 anrufen. In allen 28 Mitgliedsstaaten lassen sich somit Polizei, Feuerwehr oder Notarzt alarmieren. Und wenn medizinische Versorgung nötig ist, garantiert die Europäische Krankenversicherungskarte den Anspruch auf Behandlung. Das Mitführen von Formularen ist damit nicht mehr nötig. Seit vielen Jahren arbeitet die EU zudem an einheitlichen Konfektionsgrößen: Wer im Ausland shoppen will, muss dann nicht mehr die Größentabellen des jeweiligen Landes kennen. Die Jeansgröße, die in Deutschland passt, passt dann auch in Italien. Diese EU-Verordnung allerdings gibt es noch nicht – obwohl schon seit 1994 an ihr gearbeitet wird.

In diesem Punkt haben die Euroskeptiker zweifelsfrei recht: Langsam ist sie, die EU.




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