Vor 90 Jahren: Bückeburg soll zum Zentrum der deutschen musikwissenschaftlichen Forschung werden
Hochtrabende Pläne finden unrühmliches Ende
Bückeburg.
Die Stadt
sei zu einem "Mittelpunkt deutscher (Musik-) Kultur" geworden, schrieb im Herbst 1918 das Fachjournal "Neue Zeitschrift für Musik". Hintergrund: Kurz zuvor waren in der Stadt zwei anspruchsvolle musikpädagogische und -wissenschaftliche Einrichtungen aus der Taufe gehoben worden. In einem 1916 an der Friedrich-Bach-Straße (Nr.1) fertig gestellten Repräsentativbau hatte eine Orchesterhochschule den Lehrbetrieb aufgenommen. Und im Juni 1917, also vor 90 Jahren, war ein "Institut für musikwissenschaftliche Forschung" gegründet worden. Initiator, Geldgeber und Schirmherr beider Initiativen war der damalige schaumburg-lippische Landesherr Fürst Adolf, der auf diese Weise die große Tradition der Residenz als überregional bedeutsames Kunst- und Kulturzentrum fortzusetzen hoffte.
Autor:
Wilhelm Gerntrup
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Die Hochschule sollte vor allem der Ausbildung von Nachwuchsdirigenten, Chorleitern und Orchesterinstrumentalisten dienen. Die Aufnahmekapazität war auf bis zu 60 Studierende ausgelegt. Die Begabtesten durften mit großzügigen Stipendien rechnen. Der Lehrplan sah Instrumentalunterricht, Kompositionslehre und Konzertliteratur vor. Über die Einhaltung der Qualitätsstandards wachte der "Verband Deutscher Orchester-Chorleiter e. V.". Zum künstlerischen Leiter war der bekannte Bückeburger Hofkapellmeister und Violinvirtuose Richard Sahla berufen worden, der in dem neuen Haus eine Dienstwohnung bezog.
Sitz des neuen "Fürstlichen Institut für musikwissenschaftliche Forschung" war das nur wenige Schritte neben der Orchesterhochschule stadteinwärts an der Schlossgartenstraße (Nr.4) gelegene "Kavalierhaus". Der stattliche Fachwerkbau ist interessierten Bückeburgern als Ex-Wohnstatt des "Pockenarztes" Dr. Bernhard Christoph Faust (1755-1842) bekannt. Das von Adolf mit einem komfortablen Stiftungsvermögen ausgestatteten Institut war die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Zu den ehrgeizigen Zielen gehörten unter anderen die wissenschaftliche Begleitung und Unterstützung der benachbarten Hochschule, der Aufbau eines Archivs für deutsche Musikgeschichte, die Zusammenstellung einer Bücherei und die Sammlung von historischen Musikinstrumenten. Darüber hinaus stand die Neuherausgabe einer regelmäßig erscheinenden Fachzeitschrift mit dem Titel "Archiv für Musikwissenschaft" auf dem Programm. Interessierten Nutzern vor Ort stand ein weitläufiger Leseraum zur Verfügung. In einem kleinen Saal fanden regelmäßig Vorträge und kleinere Musikveranstaltungen statt.
Erster Direktor des Instituts wurde der aus Frankfurt am Main stammende, damals gerade mal 27-jährige Musikwissenschaftler Carl August Rau (1890-1921). Größter Schatz des von ihm mit viel Elan auf- und ausgebauten Hauses waren die aus dem fürstlichen Familienarchiv stammenden Originalnotenhandschriften weltberühmter Komponisten und eine größere Zahl sehr kostbarer Instrumente aus dem Traditionsbestand der Hofkapelle.
Sowohl der akademische Lehrbetrieb als auch die Institutsarbeit kamen nie richtig in Schwung. Ursache waren die politischen Folgen des Ersten Weltkriegs. Mit dem Machtverlust Adolfs Ende 1918 war es auch mit dem finanziellen Mäzenatentum des Ex-Landesherrn vorbei.
Trotz verzweifelter Anstrengungen Richard Sahlas blieb von der Idee einerüberregional bedeutsamen Orchesterhochschule "nur" eine mühsam ums Überlebend kämpfende städtische Musikschule übrig. Ende der zwanziger Jahre kam der Lehrbetrieb ganz zum Erliegen. 1935 zog eine Militärmusikschule in das Gebäude an der Schlossgartenstraße ein. Sie wurde 1939 in "Heeresmusikschule" umgetauft und dem Oberkommando der Wehrmacht unterstellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte das Haus zunächst eine (nichtmusikalische) Bundeswehrbehörde. Und seit knapp zehn Jahren ist dort die Hering Werbeagentur GmbH zu Hause.
Genauso unrühmlich ging es mit dem Institut für musikwissenschaftliche Forschung zu Ende. Als deren junger Chef Carl August Rau 1924 überraschend starb, ging die Leitung auf den in Berlin lebenden und arbeitenden Prof. Dr. Max Seiffert über. Seiffert war Senator der preußischen Akademie der Wissenschaften und Dozent an der staatlichen Musikhochschule. Auf sein Betreiben hin wurde das Institut Ende 1933 als "Staatliches Institut für deutsche Musikforschung" in die Reichshauptstadt verlegt.
Besonders schmerzlich aus Sicht vieler Bückeburger war die Tatsache, dass dabei auch das kostbare Notenarchiv und die Instrumentensammlung abtransportiert wurden. Schlimmer noch: Der gesamt Bestand gilt seit Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen.
Überlebt hat aus der Zeit der Institutsgründung nur die damals ins Leben gerufene Zeitschrift "Archiv für Musikwissenschaft". Das renommierte Fachblatt erscheint heute im Franz Steiner Verlag Stuttgart und wird von Prof. Dr. Albrecht Riethmüller vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Berliner Freien Universität herausgegeben.